Montag, 16. Mai 2022

„Gesellschaft in Demut transformieren“

Deutsch-libanesische Konsultation zu öffentlicher Theologie

info_outline

„Öffentliche Theologie“ denkt darüber nach, auf welcher theologischen Grundlage das gesellschaftliche Wirken von Christinnen und Christen sowie ihrer Kirchen steht. Diese Frage stellt sich in allen Kontexten, egal wie verschieden diese sind. Ende April kamen in Beirut Theologinnen und Theologen aus dem Libanon und aus Deutschland zusammen und diskutierten Fragen, vor denen Kirchen und Christen in der deutschen und libanesischen Gesellschaft stehen. Die Veranstaltung fand im Rahmen des 50-jährigen Jubiläums der Evangelischen Mission in Solidarität (EMS) statt.

Manchmal überholt die Aktualität die theologische Diskussion auf brutale Weise. So auch bei der 7. Internationalen Konsultation, welche die evangelische Near East School of Theology (NEST) und das EMS-Programm „Studium im Mittleren Osten“ (SiMO), das Studierenden ein ökumenisches Studienjahr an der NEST ermöglicht, in der Osterwoche in Beirut ausgerichtet hatten. So sprach der Berliner Professor Torsten Mereis in seinem Beitrag von der Rolle der Kirchen bei der Flüchtlingsrettung im Mittelmeer und wie stark die öffentliche Debatte in Deutschland darüber gespalten sei. Und keine drei Tage später kenterte vor der libanesischen Hafenstadt Tripoli ein Flüchtlingsboot. Sechs Tote, darunter ein Kind. Alles Libanesinnen und Libanesen, die sich auf diesen riskanten Weg gemacht hatten.

Nur 30 Teilnehmende waren nach Beirut gekommen – je zur Hälfte aus dem Libanon und aus Deutschland. Alle drei Jahre laden SiMO und NEST zu einer gemeinsamen Konsultation ein. Aufgrund der desolaten wirtschaftlichen und politischen Lage im Libanon konnte sie in diesem Jahr nur in kleinem Kreis stattfinden.

Im Libanon hat die theologische Auseinandersetzung über die Rolle von Christinnen und Christen sowie ihren Kirchen Ende 2021 einen sehr aktuellen Ausdruck gefunden. Eine ökumenische Gruppe von Theologinnen und Theologen aus dem Nahen Osten hatte das Dokument „We choose abundant life“ (Wir wählen das Leben in Fülle) vorgestellt, das die Situation der Christenheit in der Region zehn Jahre nach dem sogenannten arabischen Frühling reflektiert (ausführlicher Bericht im Schneller-Magazin 1-2022). Zwei Verfasserinnen stellten das Papier vor. Souraya Bechealany, die ehemalige Generalsekretärin des Mittelöstlichen Kirchenrates (MECC), betonte, dass man sich vom nahöstlichen Gesellschaftsmodell eines Nebeneinanders von geschützten „Minderheiten“ verabschieden müsse, um zu einem staatsbürgerlichen Modell zu kommen, in dem alle Bürgerinnen und Bürger gleiche Rechte und Pflichten haben. Mitautorin Najla Kassab, Pastorin der Nationalen Evangelischen Synode in Syrien und dem Libanon sowie Präsidentin der Reformierten Weltgemeinschaft, sprach von den Revolutionen im Nahen Osten der vergangenen Jahre: Diese seien nicht tot, befänden sich jedoch sozusagen auf der Intensivstation. Die Kirchen seien aufgerufen, ihre Ideen wiederzubeleben, indem sie geschützte Räume für eine öffentliche Debatte zur Verfügung stellten.

Solche geschützten Räume sind manchmal wichtiger als der selbstbewusste öffentliche Gestus einer privilegierten Kirche. Dem stimmte auch der maronitisch-katholische Erzbischof von Beirut, Boulos Abdel Sater, zu. Er empfing die Teilnehmenden der Konsultation persönlich in seinem Bischofspalais. Im Blick auf den enormen Einfluss, den maronitische Institutionen nach wie vor in der libanesischen Gesellschaft ausüben, erklärte er nachdenklich: „Wir werden wohl etwas von unserer Macht aufgeben müssen. Oder wir werden verschwinden.“

Dem stimmte George Sabra, der Präsident der NEST, in seinem Beitrag zu. Theologie im Libanon sei oftmals „zu öffentlich“. Immer wieder träten die Oberhäupter der staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften in öffentlichen Medien auf. Ob ihre Stellungnahmen jedoch theologisch einwandfrei seien, werde zunehmend in Frage gestellt. Damit steht Sabra in einer Linie mit seinem Bochumer Professorenkollegen Günter Thomas. Vor dem deutschen Hintergrund sprach Thomas vom rasanten Schrumpfen der Kirchen in Europa, von marginalisierter Theologie, Relevanzkrise und Verlusterfahrungen. Nur durch eine radikale Hoffnung, die allein auf Gottes schöpferischer Kraft beruht, könne eine demütig gewordene Kirche die Gesellschaft noch transformieren. Diese Hoffnung sei der ureigenste Beitrag der Kirche zu allen gesellschaftlichen Debatten. Wo sie ihn nicht leiste, sondern stattdessen wie ein beliebiger gesellschaftlicher Akteur argumentiere, verleugne Kirche sich selbst.

Mireille Hammouche, Programmdirektorin der syrisch-libanesischen NGO „Forum for Development, Culture and Dialogue“ griff diesen Punkt auf: „Die Menschen leiden, weil Religion bei uns so lange missbraucht wurde“, sagte sie im Blick auf Syrien und den Libanon sowie ihrer eigenen Kriegserfahrungen. Eine vom Glauben inspirierte Ethik müsse dazu dienen, den Nachbarn, der lange dämonisiert wurde, zu re-humanisieren. Das Überleben jeder einzelnen Religionsgemeinschaft in Nahost hänge am Überleben aller Religionsgemeinschaften.

Dr. Uwe Gräbe, EMS-Fachbereichsleiter Nahost und Geschäftsführer des SiMO-Programms

Die 7. Internationalen Konsultation an der Near East School of Theology zum Thema “Öffentliche Theologie - Aktuelle Herausforderungen im Nahen Osten und in Europa“ fand vom 20. bis 22. April 2022 in Beirut statt. Der ausführliche Konferenzbericht steht Ihnen nachfolgend als PDF zum Download zur Verfügung.