Dienstag, 08. März 2022

Südafrika: Frauen brechen das Schweigen

Gewalt im Schatten der Corona-Pandemie

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Geschlechtsspezifische Gewalt ist die am weitesten verbreitete, zugleich am wenigsten sichtbare Menschen­rechtsverletzung weltweit. Frauen und Mädchen in Süd­afrika sind davon besonders stark betroffen. Oft findet die Gewalt hinter verschlossenen Türen, hinter der Fassade eines scheinbar intakten Familienlebens statt. Und im Schatten der Corona-­Pandemie haben die Täter leichtes Spiel. Doch eine Gruppe engagierter Frauen aus der Evangelischen Brüder-­Unität in Südafrika (MCSA) will das nicht länger hinnehmen.

„Mein Kopf hämmerte, jeder Muskel in meinem Körper tat weh“, erzählt die 34-jährige Josephine (Name von der Redaktion geändert) aus Kapstadt. „Kam es davon, dass ich die ganze Zeit weinen musste? Oder lag es daran, dass ich keine Minute geschlafen und er mich wieder die ganze Nacht lang brutal geschlagen und misshandelt hatte? Ich wusste es nicht. Es war mir auch gleich gültig, denn ich musste mich zusammenreißen, durfte nichts fühlen. Denn seiner Meinung nach war ich ja selbst schuld. Alles, was ich durchmachte, war ganz alleine meine Schuld. Jedes Hindernis, dem wir als Paar gegenüberstanden, war meine Schuld. Daran erinnerte er mich immer wieder, und bevor er an diesem Morgen ging, sagte er: ‚Du siehst so aus, weil du dich gegen mich und meine Überzeugungen stellst. Wenn du mir nur gehorchen würdest, wäre dein Leben so einfach.‘ Er stieg ins Auto, und als er wegfuhr, sagte die Stimme in meinem Kopf: Du wirst hier sterben, wenn du noch länger bleibst“.  

Schon oft hat Josephine diese innere Stimme gehört. Doch an diesem Morgen kann sie sie nicht länger ignorieren. Sie packt ihre Sachen und geht. Es gelingt ihr endlich, sich von ihrem Partner zu trennen – nach mehr als zehn Jahren voller Demütigungen, Schuldzuweisungen und Gewalt. „Ich danke Gott dafür, dass er mich gerettet hat. Ich hätte auch als Fall für die Kriminalstatistik enden können“, sagt sie rückblickend.

Nicht alle Frauen bringen so viel Kraft auf oder haben so viel Glück wie Josephine: Südafrika ist ein Land, in dem geschlechtsspezifische Gewalt (Gender Based Violence /GBV) zur fast alltäglichen Erscheinung geworden ist. So wird eine von fünf Frauen von ihrem Ehemann oder Partner körperlich oder seelisch misshandelt. Polizeistatistiken zufolge findet alle 26 Sekunden eine Vergewaltigung statt, wird alle drei Stunden eine Frau ermordet. Damit liegt die Zahl der Femizide (Femizid: Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts) in Südafrika sechsmal so hoch wie im weltweiten Durchschnitt. Und Corona hat alles noch viel schlimmer gemacht.

„Die Zahl der Femizide ist in Südafrika sechsmal so hoch wie im weltweiten Durchschnitt.“

Seit Beginn der Pandemie hat geschlechtsspezifische Gewalt in Südafrika erschreckende Ausmaße angenommen: So meldete der südafrikanische Polizeidienst SAPS allein in der ersten Woche des Lockdowns im Frühjahr 2020 rund 2.300 Notrufe von Frauen. Durch die Ausgangssperren waren viele gezwungen, Tag und Nacht mit ihrem Partner auf engstem Raum zusammen zu verbringen. Das eingeschränkte öffentliche Leben bot praktisch keine Ausweichmöglichkeiten. So entluden sich Frustration, Stress und Zukunftsängste vieler Männer in Aggressionen – oft unter dem Einfluss von Alkohol oder Drogen.

Aktivistinnen demonstrieren gegen geschlechtsspezifische Gewalt. (Foto: Sonke Gender Justice)

Vielfältige Ursachen der Gewalt

In Südafrika wird GBV mittlerweile als „Schattenpandemie“ bezeichnet, die auf ein grundsätzliches gesellschaftliches Problem des Landes hinweist: das geringe Ansehen und die niedrige soziale Stellung der Frauen. Es fehlt am Respekt für ihre Würde, ihr Leben und ihre Sicherheit. Doch warum ist GBV gerade in Südafrika so weit verbreitet? Studien belegen, dass an ihrer Entstehung eine Vielzahl individueller, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, kultureller und religiöser Aspekte mitbeteiligt sind – etwa Machtungleichgewichte zwischen den Geschlechtern oder diskriminierende patriarchalische Praktiken. Die Forschung arbeitet zunehmend mit einem von der WHO entwickelten „ökologischen Modell“, um die Wechselwirkungen von persönlichen und soziokulturellen Faktoren besser zu verstehen. Hinzu kommt, dass die südafrikanische Gesellschaft nach wie vor auf einem Konzept von sozialen Klassen basiert. Das Apartheidsystem sorgte dafür, dass die Menschen in verschiedene so genannte Rassengruppen eingeteilt wurden. Oftmals wurden sie je nach Gruppenzugehörigkeit gewaltsam umgesiedelt, weit weg von ihren ursprünglichen Wohnorten und Arbeitsplätzen. Viele litten unter den Folgen dieser Entwurzelung und brachten ihre Wut und Frustration durch Gewalt zum Ausdruck.

Körperliche und seelische Folgen

Die Gewalt verursacht bei den betroffenen Frauen oft schwere gesundheitliche Schäden, unter denen sie mitunter ein Leben lang leiden. Meist trägt auch die Seele tiefe Verletzungen davon: Psychische Erkrankungen wie posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen oder Angstzustände sind bei Gewaltopfern weit verbreitet. Überlebende von sexueller Gewalt machen zudem immer wieder die Erfahrung, dass sie von ihrem Umfeld geächtet, stigmatisiert und als Opfer beschämt werden. Unter Umständen müssen sie auch mit den gesundheitlichen und emotionalen Folgen sexuell über-tragbarer Krankheiten fertig werden: Rund sieben Millionen Menschen leben in Südafrika mit HIV.

Die südafrikanische Justiz lässt betroffene Frauen häufig im Stich. In den Gerichten stapeln sich die Akten 82.000 unbearbeiteter Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt, für die es noch keinen Verhandlungstermin gibt. Von der Polizei werden Probleme im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt oft als Privatangelegenheit heruntergespielt. Bei sexuellen Über-griffen müssen viele Frauen erleben, dass die Täter vom Rechtssystem geschützt werden und straffrei davonkommen. Allein schon der Versuch, einen Fall bei den Polizeibehörden zu melden, kann daher für weibliche Gewaltopfer zutiefst demütigend sein und weitere Traumatisierungen nach sich ziehen.

Mutter mit Kind in Elim: Während der Corona-Pandemie hat häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder in Südafrika stark zugenommen. (Foto: EMS/Lohnes)

Wachsender öffentlicher Protest

Bisher ist es der Republik Südafrika nicht gelungen, die grassierende Gewaltepidemie erfolgreich einzudämmen.  Doch die unvorstellbare Brutalität gegenüber Frauen sowie die offensichtliche Unfähigkeit der Justiz, den Opfern wirksam zu helfen und die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, lösen in der südafrikanischen Öffentlichkeit immer größere Empörung aus. Zahlreiche Frauenrechtsorganisationen und kirchliche Gruppen erheben mittlerweile ihre Stimme.

Eine von ihnen ist die „Anti-GBV-Ressourcengruppe“ (Anti GBV Resource Group) der Evangelischen Brüder-Unität in Südafrika (Moravian Church in South Africa /MCSA). Sie wurde im August 2020 auf dem Höhepunkt der ersten Corona-Welle von der Theologin Angelene Swart, der Krankenschwester Lettice Joemath, der Sozialarbeiterin Eleanor Slamat und der Unternehmerin Rozan Newfeldt gegründet. „Wir Südafrikanerinnen sind zu Recht entsetzt und frustriert darüber, dass Männer ihre körperliche Überlegenheit und Sexualität als Waffe gegen uns einsetzen“, sagen die vier Frauen. „Für uns war es an der Zeit, nicht länger nur über GBV und Femizid zu reden, sondern endlich zu handeln. Genug ist genug. Viele der Opfer gehören zu unseren Familien, Freunden, Gemeinschaften und Gemeinden. Warum schweigen wir und unsere Kirchen dann so oft zu diesem Thema?”

Die Anti-GBV-Ressourcengruppe hat es sich zum Ziel gesetzt, die MCSA bei der Überwindung dieser untragbaren Situation zu unterstützen – eine „Mammutaufgabe“, wie die Gruppenmitglieder selbst betonen. Der Handlungsbedarf ist groß: „Gewalt gegen Frauen ist eine Realität in unserer Kirche und unseren Gemeinden. Wir möchten dafür Bewusstsein schaffen und ein Forum für den Austausch bieten.“

ANTI-GBV-RESSOURCENGRUPPE IN SÜDAFRIKA

 

Aufklärung und Bewusstseinsbildung

Die vier Frauen treffen sich einmal im Monat, persönlich oder virtuell – je nach der aktuellen Pandemielage. Noch ist die Gruppe im Aufbau begriffen: „Anfangs haben wir vor allem Informationen aus den Medien gesammelt, viele Gespräche geführt und uns weitergebildet.“ Unter anderem standen sie dabei im Kontakt mit der Ärztin Dr. Genine Josias am Karl- Bremer-Krankenhaus im südafrikanischen Bellville. Bei der Behandlung und Rehabilitierung von Vergewaltigungs- und Gewaltopfern arbeiten Dr. Josias und ihr Team nach einem ganzheitlichen Therapieansatz, der darauf abzielt, die Würde und Selbstachtung der Betroffenen wiederherzustellen.

Im November 2020 lud die Anti-GBV-Ressourcengruppe zur ersten Sitzung ihres neu gegründeten Lese- und Gesprächskreises „Schattengespräche“ ein. Im Mittelpunkt dieses Angebots stehen die Lektüre und der Austausch über Literatur zum Thema GBV. Begonnen wurde mit dem Buch „No visible bruises... what we don‘t know about domestic violence can kill us“ der amerikanischen Autorin Rachel Louise Snyder (nur auf Englisch erhältlich). Die Resonanz auf den Literaturkreis war laut den Initiatorinnen überaus ermutigend:

„Alle 15 Teilnehmenden, Frauen und Männer, bezeichneten den Inhalt des Buches und die anschließenden Diskussionen als sehr aufschlussreich und informativ. Manche fühlten sich aber auch schuldig, weil sie bisher nicht aktiv geworden sind und sich im Alltag nicht stärker gegen Gewalt eingesetzt hatten.“ Wegen der Corona-Pandemie konnte sich die Lesegruppe nicht so oft treffen wie ursprünglich geplant. Die „Schattengespräche” sollen aber auf jeden Fall fortgesetzt werden.

„Wir stellen unsere Zeit, unsere Erfahrungen und unsere Ressourcen zur Verfügung.“

Anti-GBV-Ressourcengruppe der MCSA

Gegenwärtig unterstützt die Gruppe ihre Kirche bei der Vorbereitung und Planung von Workshops für Pfarrer*innen zum Thema Gewalt gegen Frauen. Ein Anti-GBV-Programm für Theologiestudierende am Seminar der Brüder-Unität hat bereits stattgefunden. Weitere Workshops in den zehn Kirchenbezirken der MCSA sollen folgen, sobald dafür die entsprechenden Mittel zur Verfügung stehen – denn bislang arbeitet die Anti-GBV-Ressourcengruppe rein ehrenamtlich und erhält keinerlei finanzielle Unterstützung.
Des Weiteren sind die vier Frauen gerade dabei, ein Handbuch zusammenzustellen, das in den Kirchengemeinden der Brüder-Unität verteilt werden soll. In dem Leitfaden geht es um Definition, Ursachen, Risikofaktoren und Auswirkungen geschlechtsspezifischer Gewalt, aber auch um Ressourcen und mögliche Lösungswege. Über ein Video, das das Handbuch ergänzen soll, wird ebenfalls nachgedacht.

Angelene Swart, Lettice Joemath, Eleanor Slamat, Rozan Newfeldt

Hintergrundinformationen

Wir danken der Organisation Sonke Gender Justice, die uns für diesen Artikel Bildmaterial zur Verfügung gestellt hat.
genderjustice.org.za

Die Evangelische Brüder-Unität in Südafrika (Moravian Church in South Africa/MCSA) ist eine von zwei afrikanischen EMS-Mitgliedskirchen. Sie hat knapp 45.000 Mitglieder in 90 Gemeinden. Ihre Kirchenleitung besteht aus den Delegierten der zwölf Kirchendistrikte sowie einer dreiköpfigen, von der Synode gewählten Exekutive. Präsident der MCSA ist Pfarrer Martin Abrahams. David William Daniels von der MCSA sitzt seit Juni 2021 in beratender Funktion als Jugendvertreter im EMS-Missionsrat.
moravianchurch.co.za