Donnerstag, 02. Dezember 2021

Von Pfund, Lollars und Frischgeld

Wie Libanesinnen und Libanesen heute rechnen müssen

Zerstörter Getreidespeicher aus der Nähe (links), daneben eine Skulptur (Mensch mit Friedenstaube in der Hand), die aus einem bei der Explosion völlig verdrehten Stützpfeiler hergestellt wurde. (Foto: EMS/Gräbe)

Nahostreferent Uwe Gräbe berichtet aus dem Libanon

Es dauert eine Weile, bis ich verstehe, was sich hier so seltsam anfühlt – und was sich in den vergangenen zwei Jahren, in denen ich den Libanon nicht mehr besuchen konnte, selbst in dieser kleinen Eckkneipe an der Hamra-Straße in Beirut so massiv verändert hat. Doch, es gibt sie noch, die Bars und Restaurants, in denen sich trotz Pandemie, Wirtschaftskrise und anderen Katastrophen eine nennenswerte Zahl an Gästen einfindet.

Es sieht aus wie immer, doch anfühlen tut es sich eben ganz anders. Und endlich verstehe ich: Es ist die Stille, die einem hier aufs Gemüt schlägt. Voll besetzte Tische – aber kein lautes Lachen, kein munteres Scherzen, nirgends. Man unterhält sich mit gedämpfter Stimme. Und das in einer Weltgegend, in der es sonst gemeinhin eher turbulent zugeht. Ist es eine Art kollektiver Depression, die sich so ausdrückt? Das Gefühl, dass Lachen in der gegenwärtigen Situation schlicht unanständig wäre? Oder so etwas wie ein schlechtes Gewissen, sich noch etwas leisten zu können, das für die Mehrheit der Bevölkerung unerreichbar geworden ist? Es ist ja nicht so, dass durch die Inflation im Libanon einfach alles nur teurer geworden wäre. Nein, diese Krise hat noch keine klare Linie, alles scheint unklar, ungewiss, im Fluss. Das betrifft beispielsweise die Wechselkurse ebenso wie die Preise und die Gehälter.

Vor dem Oktober 2019 war es so einfach mit den Wechselkursen: 1.500 Pfund waren immer ein Dollar. Die libanesische Währung war fest an die amerikanische gebunden, obwohl es der Wirtschaftsleistung des Libanon schon längst nicht mehr entsprach und nur durch immer neue Staatsschulden finanziert werden konnte. Meist wurden die alten Bankkonten damals einfach in Dollar geführt.

Heute gibt es diesen „offiziellen“ Wechselkurs theoretisch immer noch: Für einen nominellen Dollar auf dem Bankkonto bekommt man noch immer jene 1.500 Pfund, obwohl man in den Wechselstuben auf dem freien Markt 23.000 Pfund für einen Dollar bezahlen muss. In sehr begrenztem Maße kann man auch 3.900 Pfund für einen Dollar vom alten Konto bekommen – „Lollars“ oder „Lebanese Dollars“ nennt sich das Ergebnis solcher Rechenkünste das sich nur dann erzielen lässt, wenn die jeweiligen Konten nicht gleich ganz eingefroren sind. Aber wer im internationalen Geschäft tätig ist, verfügt zumeist ohnehin längst über so genannte „Frischgeld-Konten“: Devisen, die nach der Zahlungsunfähigkeit des Staates im Frühjahr 2020 aus dem Ausland auf solche Konten überwiesen wurden, gelten als geschützt und können auch vollumfänglich als Dollar oder Euro ausgezahlt werden.

Zwei zerstörte Gebäude; links die staatliche Elektrizitätsgesellschaft. (Foto: EMS/Gräbe)

Wachsende wirtschaftliche Ungleichheit

Schaut man auf die Preise, so ist es meistens so, dass sie sich für Libanesinnen und Libanesen, die ein Gehalt in einheimischer Währung beziehen, mehr als verzehnfacht haben, während sie für Devisenbesitzer deutlich billiger geworden sind. Daneben gibt es in den Supermärkten Importprodukte, bei denen der Dollarpreis tatsächlich gestiegen und deren Wert in Pfund dadurch in astronomische Höhen geschnellt ist. Und drittens gibt es einige ganz wenige Lebensmittel auf den lokalen Märkten, deren Pfund-Preis sich nur moderat erhöht hat – und die in Devisen nun spottbillig geworden sind.

Und schließlich die Gehälter: Viele erhalten immer noch das gleiche Gehalt in Pfund wie vor dem Herbst 2019 oder haben aufgrund der Wirtschaftskrise gar ihren Job verloren. Am anderen Ende des Spektrums gibt es jene wenigen Glücklichen, die von internationalen Firmen oder Nichtregierungsorganisationen auch weiterhin in Devisen entlohnt werden. Menschen, die in

vergleichbaren Berufen und Positionen arbeiten, erhalten so teilweise extrem unterschiedliche Gehälter. Nein, eine eindeutige Linie ist in diesem wirtschaftlichen Chaos noch längst nicht zu erkennen, und wahrscheinlich wird es sich eher auf einem niedrigeren als auf einem höheren Niveau einpendeln. Letzteres sagt auch ein ranghoher deutscher Diplomat, mit dem ich in diesen Tagen unterwegs bin: Wahrscheinlich werde die wirtschaftliche Lage für die Gesamtbevölkerung noch viel schlimmer werden, da die politischen Entscheidungsträger sich auf ihren kleinen Inseln des Reichtums eingerichtet hätten und noch immer keinen Handlungsdruck verspürten.

Unübersehbare Zerstörungen

Die wirtschaftliche Ungleichheit zeigt sich wohl nirgendwo sonst so anschaulich wie am Wiederaufbau nach der Hafenexplosion vom August 2020: Die glitzernden Hochhäuser an der Marina und der Uferstraße westlich des Unglücksortes sind längst mit neuen Glasfassaden ausgestattet; stellenweise wird noch eifrig gewerkelt. In den ärmeren Vierteln östlich und südlich davon sind die Verwüstungen auch weiterhin unübersehbar. Doch zählen in diesem Falle auch die staatlichen Behörden zu den Verlierern: Nur notdürftig wurden die Fensterhöhlen der nationalen Elektrizitätsgesellschaft mit Spanplatten und Betonsteinen gestopft. Selbst in einem historischen Prachtbau wie dem Regierungssitz, dem „Grand Serail“, werden erst jetzt nach und nach Plastikfolien gegen neue Glasfenster ausgewechselt. Nach sechzehn Monaten. Das unübersehbare Symbol der massiven Zerstörung aber ist auch weiterhin jener zerborstene Getreidespeicher am Hafen, der der Explosion am nächsten stand.

„Wir hatten einmal 52 Prozent unseres Haushaltes selbst decken können; nur 48 Prozent unseres Budgets waren aus Deutschland, der Schweiz und England gekommen“, so erklärt mir der Direktor der Johann Ludwig Schneller-Schule in der libanesischen Bekaa-Hochebene, Pfarrer George Haddad. Doch jetzt sei es ganz anders: „Unsere einheimischen Einnahmen sind fast auf Null gesunken. Die Spenden aus dem Ausland müssen reichen, um den Haushalt komplett zu decken.“ Man mag sich vorstellen, wie diejenigen diakonischen und karitativen Einrichtungen dastehen, die sich bislang ausschließlich aus lokalen Einnahmen finanziert haben. Sehr viele von ihnen mussten bereits schließen. In der Innenstadt von Beirut, nicht weit von jener Kneipe, in der mir die unglaubliche Stille aufgefallen ist, hat die evangelische Kirche bis zum vergangenen Jahr ein College betrieben. Es war eine der ältesten und renommiertesten christlichen Privatschulen im Land. Jetzt steht das historische Gebäude hinter dem schmiedeeisernen Tor leer. Die Kirche sucht nach einem Investor, der es kauft.

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