Montag, 11. August 2025

Dazu berufen, Grenzen zu überwinden

Interview mit Dr. Stephen Lakkis

Ein Mann hält eine Rede.
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Dr. Stephen Lakkis ist seit September 2022 Pfarrer an der Christuskirche in Pforzheim (Evangelische Landeskirche in Baden). Zuvor war er viele Jahre als Theologieprofessor an verschiedenen Institutionen mit dem Schwerpunkt öffentliche Theologie tätig. Er arbeitete mit NGOs, Universitäten, kirchlichen Gruppen, Museen und Ministerien (u.a. Auswärtiges Amt) als Berater zu sozialen Themen wie wirtschaftliche Gerechtigkeit, Menschenrechte, Demokratisierung, Umweltpolitik und Friedensförderung.

Pfarrer Lakkis, was verbinden Sie mit Begriffen wie Heimat oder Zuhause? Wo fühlen Sie sich zuhause?

Als Ausländer werde ich oft gefragt, woher ich komme. Aber das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Meine Familie stammt aus dem Libanon, aber während des Kriegs konnten wir nach Australien fliehen. Ich fühle mich dem Libanon immer noch verbunden, aber es war nie meine Heimat. Ich bin in Australien aufgewachsen, aber dort durfte ich mich als Migrant auch nie zu Hause fühlen. Australien ringt bis heute mit Rassismus, und uns wurde immer klar gemacht, dass wir dort nicht erwünscht waren. So haben meine Frau und ich Australien verlassen und sind in den letzten 30 Jahren durch viele Länder gereist, zuletzt nach Taiwan, wo ich Gemeindepfarrer an einer großen Stadtkirche in Taipeh war. Zu Hause fühle ich mich vor allem bei meiner Frau. Wenn wir zusammen sind, bin ich überall froh.

Wie haben Sie diese Erfahrungen geprägt, sowohl persönlich als auch beruflich?

Es ist schmerzhaft, keinen eigenen Ort zu haben. Aber es ist auch befreiend. Deutschland lernt noch, pluralistische Gesellschaften aufzubauen und damit umzugehen. In dieser vorpluralistischen Phase spielen Etikettierungen und Milieutheorie hier eine große Rolle: Man will wissen, in welche Schublade man den anderen stecken kann, oft ohne Verständnis für die Vielfalt der Identitäten. Gerade Migranten existieren gleichzeitig in verschiedenen Gruppen. Ich gehöre gleichzeitig zu den Professoren und den Flüchtlingen, bin nun unierter Pfarrer, war aber ein Leben lang ökumenisch unterwegs, wechsle zwischen vier Sprachen und finde an fast jedem Tisch einen Platz. Heute sprechen wir von kulturellem Codeswitching, vom Springen zwischen verschiedenen Kreisen. Paulus würde schlicht sagen: Ich bin allen alles geworden.

Aktuell nehmen Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit weltweit zu. Was hat der christliche Glaube einer Politik des „Wir gegen die Anderen“ entgegenzusetzen?

Im Religionsunterricht musste ich einmal mit den Schülern eine Einheit bearbeiten: Muslime unter uns. Es war schockierend, diese Denkweise in den Lernmaterialien zu finden. Minderheiten sind nicht unter uns, sie sind Wir! Nur gemeinsam bilden wir diese Gesellschaft. Ein einheitliches Wir oder eine ‘reine’ Gesellschaft gab es nie. Ein solches Denken führt zu Hass auf andere und zum Wunsch nach ethnischer Säuberung: sprich Remigration. Alle Menschen bilden das Wir. Wir werden Feindschaft nie überwinden, wenn wir das nicht lernen.

Das gilt auch für unsere Welt. Nationen sind eine neue Erfindung, die Menschen künstlich trennt. Nationalismus sagt: Mit den Menschen auf dieser Seite der Grenze bin ich verbunden, mit denen auf der anderen Seite nicht; für diese Gruppe bin ich verantwortlich, für die anderen nicht. Der christliche Glaube aber betont, dass wir mit allen Menschen verbunden und für alle Menschen verantwortlich sind. Gott ist der Vater aller und Christus ist für alle gestorben. Deshalb ist der christliche Glaube universal, er verbindet Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen der Welt. Nationalismus behauptet, dass unterschiedliche Menschen nicht zusammenleben können. Aber in der Kirche zeigen wir, dass das doch geht.

Daher sind wir Christen auch dazu berufen, Grenzen zu überwinden. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter wurde der Überfallene nackt liegen gelassen. Ohne Kleidung sind alle Merkmale seiner Identität weg – man weiß nicht, welcher ethnischen, religiösen oder sozialen Gruppe er angehört. Er existiert nur als Mensch in Not, und nur der Samariter nimmt ihn als solchen wahr. Aber Nationalismus behauptet zu Unrecht, nationale Grenzen können unsere ethische Verantwortung gegenüber allen Mitmenschen begrenzen.

 

„Nationalismus behauptet zu Unrecht, nationale Grenzen können unsere ethische Verantwortung gegenüber allen Mitmenschen begrenzen.“

Bei der EMS-Vollversammlung 2024 in Freiburg haben Sie über das Thema „Öffentliche Theologie“ referiert. Gehört das Eintreten für „Fremdlinge“ zur öffentlichen Theologie?

Im Unterschied zu anderen Religionen, die sich auf innere religiöse Erfahrungen konzentrieren, ist der christliche Glaube ein nach außen gerichteter Glaube. Wie Jesus betont: Die Liebe zu unseren Nächsten definiert uns als Christen. Und wie der barmherzige Samariter zeigt, müssen auch Fremde Gegenstand unserer Nächstenliebe sein. Ohne künstlich geschaffenen Grenzen hat der Begriff Fremder sowieso wenig Sinn. Daher betont die Bibel ständig die besondere Forderung Gottes, den Fremden zu schützen. Christus bringt es auf den Punkt: Wer den Fremden nicht aufnimmt, der nimmt Gott nicht auf.

Wie kann die Kirche denen ein sicheres Zuhause geben, die kein Zuhause haben? Wie sieht das aus? Was bedeutet es?

Vor allem, müssen wir aufhören, die Heimat anderer zu zerstören, was sie zwingt, ihre Heimat zu verlassen. Die Menschen, die zu uns kommen, brauchen auch die Freiheit, bei uns eine neue Heimat zu finden. Manche sagen, Ausländer seien faul, dabei ist es aber eine politische Entscheidung, sie nicht arbeiten zu lassen. Und wenn die Ausländerbehörden Termine verweigern und sich sechs bis zwölf Monate Zeit lassen, um Unterlagen zu bearbeiten, wird das Leben hier unmöglich gemacht. Wir müssen aber natürlich auch für die Einheimischen in Not kämpfen, die oft von ihrem eigenen Land ignoriert werden. In diesen Bereichen soll die Kirche ihren Einfluss für soziale Veränderung einsetzen.

Zuletzt kann die Kirche auch aktiv handeln, nicht nur durch die Diakonie, sondern zum Beispiel auch mit Kirchenasyl, wie meine Gemeinde das tut. Niemand behauptet, dass der deutsche Staat fehlerfrei handelt. Kirchenasyl ist daher ein Dienst am Staat. Wo Menschenrechte oder gar das Leben von Menschen bedroht sind, gewährt die Kirche Asyl, um großen Schaden an Menschen und dem Ansehen des Staates abzuwenden.

Was kann eine Organisation wie die EMS dazu beitragen?

Viele Kirchen in der Welt haben oft mehr Erfahrung mit diesen Problemen als wir. Durch unsere Partnerschaften können wir also voneinander lernen. Wichtig ist: Veränderungen schaffen wir nicht allein. Die ökumenische Kirche Jesu Christi existiert ganz bewusst als strukturierte Solidarität, solidarisch mit Gemeindegliedern in Kirchen vor Ort und weltweit. Nur gemeinsam können wir das Leben für alle verbessern, bis diese Welt endlich ein Zuhause für alle Menschen wird.

Interview: Stefan Schaal, Print-Redakteur bei der EMS